katholische Reaktionen auf die soziale Frage: »Nach Neuerungen begierig«

katholische Reaktionen auf die soziale Frage: »Nach Neuerungen begierig«
katholische Reaktionen auf die soziale Frage: »Nach Neuerungen begierig«
 
Im »Syllabus errorum«, einer zusammen mit der Enzyklika »Quanta cura« verschickten Auflistung, zeigte Papst Pius IX. 1864 die »wichtigsten Irrtümer unserer Epoche« auf, brandmarkte und verdammte sie. Unter sein Verdikt fielen sowohl philosophische und theologische Anschauungen als auch liberale Gedanken, sozialistische Forderungen und andere Elemente der modernen Zivilisation. Der Urteilsspruch traf ebenfalls die für die Zeitströmungen offenen, »nonkonformistischen« katholischen Theologen. Die päpstliche »Kampfansage an die moderne Welt« wies den Weg in ein geistiges Ghetto. Neben der Abwehr des Neuen galt das Kirchenregiment Pius' IX. dem Ausbau kirchlicher Strukturen und der Zentralisierung der apostolischen Herrschaft. Die Kirche sollte vor dem Zeitgeist bewahrt bleiben. Dies war auch das Ziel des ersten Vatikanischen Konzils, auf dem der Papst und die Konzilsväter inmitten einer von Fortschritt beseelten und von Vielfalt geprägten säkularen Welt selbstbewusst und unangefochten die Stärke und Geschlossenheit der römisch-katholischen Bastion demonstrierten.
 
Pius' Nachfolger, Papst Leo XIII., bemühte sich dagegen um die Öffnung der Kirche für die sozialen und politischen Entwicklungen der modernen Welt. Er ließ sich auf die Probleme des Industriezeitalters ein, war um Verständigung bemüht und ging behutsam zu Werke. Als methodische und inhaltliche Alternative zu den »modernen Irrtümern« unterstützte er die wieder belebte mittelalterliche Scholastik, die Neuscholastik des 19. Jahrhunderts. In der Sozialphilosophie des Thomas von Aquino fand Leo XIII. die sachgemäße Grundlage, auf der eine christliche Erneuerung der Gesellschaftsordnung aufbauen kann. Es gelang ihm, in Verhandlungen mit Bismarck, den »Kulturkampf« der katholischen Kirche mit dem preußischen Staat zu beenden. Die Nöte und Forderungen der Arbeiter griff er 1891 in dem Lehrschreiben »Rerum novarum« (= Nach Neuerungen [begierig]) auf: Durch die Kraft des Evangeliums vermöge die Kirche zur Versöhnung von Kapital und Arbeit beizutragen, sodass sozialer Friede einkehren könne. Mit der Stellungnahme zur »Arbeiterfrage« schuf Leo XIII. eine lehramtliche Basis für die weitere Entfaltung der katholischen Sozialdoktrin. Doch erst Papst Pius XI. bot 1931 in der Enzyklika »Quadragesimo anno« (= Im 40. Jahr [nach »Rerum novarum«]) eine geschlossene Lehre »über die gesellschaftliche Ordnung«. Mit ihren grundlegenden Prinzipien, dem Person-, Gemeinwohl-, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, lieferte sie die Maßstäbe für die »Wiederherstellung« und »Vollendung« des menschlichen Gemeinschaftslebens.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg forderte Papst Johannes XXIII. 1961 in der Enzyklika »Mater et Magistra« (= Mutter und Lehrerin) die uneingeschränkte Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihre Beteiligung am Produktivvermögen. Er betonte das Solidaritätsprinzip, das weltweit den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen die Verantwortung für ihre schwächsten Glieder zuweist. In »Pacem in terris« (= Friede auf Erden) erinnerte er 1963 an die sozialen und politischen Menschenrechte; er öffnete den Weg zur Zusammenarbeit mit politisch-sozialen Bewegungen. Mit Blick auf die ungerechten globalen Entwicklungen prangerte 1967 sein Nachfolger, Paul VI., in »Populorum progressio« (= Fortschritt der Völker) die Marktideologie des kapitalistischen Systems an.
 
Die Entfaltung der katholischen Sozialdoktrin von Leo XIII. bis in die Gegenwart ist von dem Bemühen geleitet, die einmal erkannten allgemein gültigen Normen auf die jeweilige Situation zu beziehen. Dies geht mit der Belehrung über menschenwürdiges Zusammenleben und dem Angebot fertiger Ordnungsmodelle einher. Stattdessen die Situation als »theologischen Ort« für soziale und politische Überlegungen zu wählen, verspricht keine dauerhaften Maßstäbe: Situationen veralten. Dieses Verfahren wenden bislang nur befreiungstheologische und praxisorientierte Konzepte an. Bei aller Offenheit für die vielfältigen Probleme im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben bleibt für das päpstliche Lehramt die göttliche Offenbarung das alleinige Fundament für wahre Ordnungsvorstellungen und richtige Weltsicht. »Begierde nach Neuerungen« und »Wirklichkeitsnähe« motivieren das Betrachten, sie verändern jedoch nicht das in sich ruhende Lehrgebäude. Nach erfolgreicher Abwehr des Zeitgeistes im 19. Jahrhundert droht dem autoritativen Lehramt am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch die Gefahr, im Wandel der Zeiten zu verblassen.
 
Prof. Dr. Dr. Erwin Fahlbusch
 
 
Daiber, Karl-Fritz: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Marburg 1995.
 Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.
 Weiler, Rudolf: Einführung in die katholische Soziallehre. Ein systematischer Abriß. Graz u. a. 1991.

Universal-Lexikon. 2012.

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